Was sind frühkindliche Reflexe?

Jeder Mensch kommt mit einem Repertoire von frühkindlichen Reflexen z.B. dem Saugreflex auf die Welt. Diese Reflexe entwickeln sich schon im Mutterleib, unterstützen das Kind bei der Geburt und dienen nach der Geburt als Überlebensreflexe. Gleichzeitig ermöglichen sie dem Ungeborenen schon im Mutterleib erste Bewegungsmuster, die schon vorgeburtlich für erste Wahrnehmungen und Bewegungen sorgen und erste Verschaltungen im Gehirn entstehen lassen. Nachgeburtlich gelingen dem Neugeborenen durch die Reflexe erste Bewegungsmuster, die z.B. das Saugen oder das Greifen ermöglichen oder auch eine Körperstreckung oder -beugung als eine erste Auseinandersetzung mit der Schwerkraft bewirken. Die frühkindlichen Reflexe sind also der Motor, der die frühe Gehirnentwicklung in Gang bringt. Wenn nun aber diese frühen reflexartigen Bewegungsmuster nicht im ersten Lebensjahr nach und nach gehemmt und integriert werden, können sich mit zunehmender Hirnreifung nur bedingt reifere und präziser gesteuerte Bewegungsmuster etablieren und das Kind entwickelt keine solide Basis für eine gute sensorische, sprachliche und kognitive Entwicklung.

Sind bei einem Kind also noch deutliche Reste dieser frühkindlichen Reflexe erkennbar, so sprechen wir von Hinweisen auf eine neuromotorische Unreife, die sehr oft mitverantwortlich für viele Entwicklungsverzögerungen, Lern- und Verhaltensprobleme ist.

Menschen mit einer neuromotorischen Unreife können oft ihr mitgebrachtes Potenzial trotz guter Intelligenz nicht ganz entfalten und müssen sich in vielen Situationen des Alltags mehr anstrengen.

 

 

Frühkindliche Reflexe stellen sich vor:

 

Der Moro-Reflex entsteht bereits in der 9. Schwangerschaftswoche und wird nach der Geburt im 2. - 4. Lebensmonat gehemmt und in eine Erwachsenenschreckreaktion umgewandelt. Nach der Geburt hilft der Reflex dem Kind, den ersten Atemzug zu tun und sichert so das Überleben des Neugeborenen.

Der Moro-Reflex, ausgelöst durch ein lautes Geräusch, eine plötzliche Veränderung der Kopfposition  oder durch Schmerz, sorgt bei einem Neugeborenen für eine unmittelbare Erregung. Die Stresshormone Adrenalin und Cortisol werden freigesetzt und das sympathische Nervensystem wird aktiviert. Die Atemfrequenz steigt an, der Herzschlag beschleunigt sich, der Blutdruck steigt an, die Haut rötet sich und die Folge, als Ausdruck der Angst, ist Weinen und Geschrei, um auf die Gefahr aufmerksam zu machen.

 

Wenn der Moro-Reflex  nicht in die Erwachsenenschreckreaktion umgewandelt wurde, befindet sich ein Kind mit Resten eines Moro-Reflexes immer in Kampf- oder Fluchtbereitschaft. Zum einen führt die Ausschüttung der Stresshormone Cortisol und Adrenalin zu einer nicht mehr gut arbeitenden Immunabwehr, häufige Infekte können die Folge sein. Zum anderen haben diese Kinder eine erhöhte Wahrnehmungsfähigkeit, sind also sehr wissbegierig, sensibel und phantasievoll, haben aber oft das Problem, nicht relevante Informationen nicht ausblenden zu können, sind also reizoffen. Zudem neigen sie zu Wutanfällen und nicht altersentsprechenden, übersteigerten Reaktionen, wenn es unerwartete Situationen gibt. Sie mögen strukturierte Abläufe und reagieren manchmal mit Rückzug, wenn es ihnen zu viel wird.

 

Der Tonische Labyrinth Reflex entsteht in der 12. Schwangerschaftswoche, ist vollständig präsent bei der Geburt und wird spätestens bis zum 3. Lebensjahr gehemmt. Dieser frühkindliche Reflex ermöglicht dem Säugling die erste Auseinandersetzung mit der Schwerkraft und hilft dem Baby als Folge einer Kopfbewegung nach vorne bzw. hinten, eine Körperbeugung und eine Körperstreckung zu entwickeln. So macht das Kind erste Erfahrungen für seine Körperwahrnehmung und das Gleichgewicht.

 

Wenn der Tonische Labyrinth Reflex nicht gehemmt wird, sind oft Probleme in der Gleichgewichtsregulation und mit der Körpereigenwahrnehmung zu beobachten und das Kind hat Schwierigkeiten ausgewogene Körperbewegungen auszuführen. Häufig gehen die Kinder gerne auf Zehenspitzen oder überstreckt. Insgesamt treten Schwierigkeiten in der Seh-, Hör- und Raumwahrnehmung auf. Oft geht das mit einer wenig ausgebildeten Organisationsfähigkeit einher.

Viele Kinder mit einem Rest eines Tonischen Labyrinth Reflexes sind als Säugling nicht kreuzkoordiniert gekrabbelt, so dass die Lernleistungen des Kindes nicht seinen kognitiven Möglichkeiten entsprechen, da das Zusammenspiel von Koordination, Gleichgewicht und Augenmuskelmotorik nicht ausreichend trainiert wurde.

Ein Rest vom Tonischen Labyrinth Reflex kann auch Auswirkungen auf die Artikulationsfähigkeit des Kindes haben, da oft die Zunge sehr weit vorne gelagert bleibt und so die Artikulation verschiedener Laute erschwert ist.

 

Der Asymmetrisch Tonische Nackenreflex entsteht in der 18. Schwangerschaftswoche, hilft dem Kind unter der Geburt sich durch den Geburtskanal hindurch zu winden und trägt nachgeburtlich Sorge dafür, dass das Baby in Bauchlage seinen Kopf zur Seite drehen kann, um zu atmen. Gehemmt wird er ca. im 6. Lebensmonat.

Der Reflex bewirkt bei Kopfdrehung des Babys, dass der Arm und das Bein in Blickrichtung gestreckt werden und der Arm und das Bein der anderen Seite in Beugehaltung gehen. So findet das erste Training für eine gute Auge-Hand-Koordination schon im Säuglingsalter statt.

 

Wenn der Asymmetrisch Tonische Nackenreflex nicht zeitgemäß integriert wurde, kann der Säugling sich im 6./7. Lebensmonat nicht in einer harmonischen Bewegung vom Rücken auf den Bauch drehen, das Kriechen auf dem Bauch wird einseitig stattgefunden haben und alle Überkreuzbewegungen werden schwierig für das Kind sein.

Später fallen diese Kinder oft durch eine wechselnde Seitigkeit auf. Und da eine Kopfbewegung immer mit einer Körperbewegung verbunden bleibt, können als Folge eines persistierenden ATNRs häufig umgeworfene Gläser  gesehen werden. Auch Schwierigkeiten mit dem Fahrrad geradeaus zu fahren und dabei nach rechts oder links zu schauen, ohne die Richtung zu verlieren, können eine Folge eines beibehaltenem ATNRs sein. In der Schule sitzen diese Kinder oft auf einer Pobacke auf dem Stuhl, die Stifthaltung ist verkrampft und das Erlernen der Schreibschrift ist sehr schwer. Die Zeilen können schlecht eingehalten werden und auf Grund der Probleme beim Überkreuzen der Körpermitte können beim Schreiben die Augen oft der eigenen Hand kaum folgen, so dass Buchstaben ausgelassen werden und die Schrift immer weiter nach unten sinkt, die Zeilen also abrutschen. Das Schriftbild ist von kippenden Buchstaben geprägt. Das Lesen lernen kostet auch oft viel Kraft, weil die Augenmuskelmotorik nicht optimal funktioniert und die Augen die Zeile verlieren oder Buchstaben übersprungen werden.

 

Der Symmetrisch Tonische Nackenreflex ist zum Zeitpunkt der Geburt für einige Tage präsent, schwächt sich ab und tritt zwischen dem 5. und 8. Lebensmonat eines Kindes wieder auf. Er hilft dem Kind ca. im 8 Lebensmonat sich gegen die Schwerkraft zu behaupten und den Kopf mit gestreckten Armen in die Höhe zu drücken, wobei der Popo auf den Fersen sitzen bleibt.  Ein Anheben des Kopfes bewirkt die Streckung der Arme und die Beugung der Beine. Beim Senken des Kopfes beugen sich die Arme und die Beine strecken sich.

 

Das Persistieren eines Symmetrisch Tonischen Nackenreflexes bewirkt bei vielen Kindern das Auslassen des kreuzkoordinierten Krabbelns, so dass diese Kinder nicht von dem automatischen Training der Augenmuskeln in der Vertikalen profitieren können, eine wichtige Voraussetzung für das Abschreiben in der Schule.  Und auch eine gute Integration der drei Sinne Gleichgewicht, Körperwahrnehmung und Sehen hat ohne das Krabbeln nicht stattgefunden, so dass diese Kinder sich für gute Lernleistungen wesentlich mehr anstrengen müssen.  Deutlich sichtbar kann ein beibehaltener STNR schon im Kindergartenalter werden. Der Zwischenfersensitz ist oft ein deutliches Zeichen, sowie häufiges Kleckern beim Essen, da das Essen unterwegs verloren geht. Schulkinder mit einem Rest des STNR können oft nicht lange sitzen, entweder sackt der Kopf beim Schreiben immer tiefer auf ihr Heft, sie müssen den Kopf abstützen oder sie sitzen mit Rundrücken und gestreckten Beinen und angewinkelten Armen in "Lümmelhaltung" am Tisch. All diese Faktoren erschweren dem Kind eine gute Konzentration auf wirklich wichtige Dinge.